Zur Einordnung:
Ich denke sehr oft über die Verbindung zwischen historischer Erinnerung, Schuld und politischer Verantwortung nach – besonders auch im Hinblick auf den Holocaust und seine Wirkung bis in unsere Gegenwart. Der Gazakrieg stellt mich dabei vor eine gedankliche Zumutung: Wie kann ein Staat, dessen Existenz so eng mit dem Überleben aus der Shoah verknüpft ist, heute Maßnahmen setzen, die massive humanitäre Folgen für die weitgehend entrechtete Bevölkerung eines anderen Landes haben?

Mich beschäftigt dieser Widerspruch. Und ich frage mich, warum es in der öffentlichen Debatte darüber so schwer fällt, das zu thematisieren – ohne dass daraus ein erbittertes Schwarz-Weiß-Denken folgt. Warum scheint es so riskant, Kritik zu üben, selbst wenn Israels Existenzrecht mit aller Deutlichkeit anerkannt und die Singularität der Shoah nicht relativiert wird?

Der folgende Text ist ein Versuch, diesen Fragen nachzugehen – tastend, nicht urteilend. Fragend, nicht wertend. Und ohne Anspruch, eine Antwort darauf zu finden.


Ich bin sehr viel zu Fuß unterwegs. Einerseits der Gesundheit wegen, andererseits, weil ich es liebe, während des Gehens nachzudenken. So wie gestern Abend, auf dem Weg von der Stadt zurück nach Hause. Der Weg, den ich immer nehme, führt über einige Kilometer an der Mur entlang, die wegen der vergangenen Regentage mehr Wasser führt als sonst. Ihr Rauschen war heute lauter und unruhiger – nicht dramatisch, aber auf eine bestimmte Art fordernd. Ich war langsamer unterwegs als sonst, aber wie immer ließ ich meinen Gedanken freien Lauf.

Irgendwann auf diesem Nachhauseweg – und ich weiß nicht, warum gerade dieser –, schob sich ein Satz in mein Bewusstsein. Ganz allmählich, wie aus dem Fluss herausgetragen. Kein klarer Moment, eher ein leises Einsickern: „Wir haben das Recht, uns zu verteidigen.“

Ich hatte ihn schon oft gehört – in Nachrichten, in Gesprächen, in politischen Reden. Und doch klang er an diesem Abend anders. Vielleicht lag es an der Mur. Vielleicht an der Stille ringsum. Vielleicht auch, weil mir zunächst nicht bewusst war, in welchem Zusammenhang er stand.

Später, zuhause, liefen die Nachrichten. Gaza tauchte auf. Wieder einmal. Die israelische Armee will dort ihre Offensive ausweiten. Die Bewohner des nördlichen Gazastreifens sollen in dessen Süden umgesiedelt werden. Angeblich zu ihrem Schutz.

Plötzlich wusste ich, woher dieser Satz kam. Und in welchem Zusammenhang er steht.

Ich habe lange darüber nachgedacht, was dieser Satz bedeutet. In jenem inneren Raum, in dem wir noch nicht argumentieren, sondern nur spüren. Das Recht auf Verteidigung ist Grundrecht eines jeden Staates, ja. Doch was, wenn aus Verteidigung ein Vernichtungsschlag wird? Wenn Drohnen, Bomben und Raketen nicht mehr nur Militärstellungen treffen, sondern alles andere auch, was da atmet und lebt? Alte? Kranke? Kinder? Und zugesicherte Fluchtwege zur tödlichen Falle werden lassen?

Ich erinnerte mich zurück an die ersten Wochen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine – die Straßen waren voller Solidarität. Die Worte, die wir fanden, waren klar. Angriffskrieg, Bruch des Völkerrechts, Kriegsverbrechen. Es gab keine Debatten, keine vorsichtigen Relativierungen. Nur Entsetzen – und Anteilnahme. Man fühlte, dass eine Grenze überschritten wurde. Und dass etwas Unverzeihliches geschah: Ein Land überfiel ein anderes – und mit ihm seine Menschen.

Warum lassen wir Klarheit vermissen, wenn es um Israel geht?

Was daran fällt uns so schwer?

Warum fällt es uns so sehr schwer, diese Klarheit auch dann zuzulassen, wenn es um Israel geht? Warum wird aus Mitgefühl den Palästinensern gegenüber plötzlich so schnell ein Vorwurf? Warum schwingt plötzlich Misstrauen mit, wenn jemand den Mund aufmacht – und fragt?

Vielleicht liegt es an unserer Geschichte. An dieser Last, die nicht vergeht, auch nicht mit der Zeit. Der Holocaust – er steht wie ein Schatten über allem, was mit Israel zu tun hat. Und das ist gut so. Es darf nie vergessen werden, was wir getan haben. Dass dieses Land – mein Land, unser Land – ein Teil jener Barbarei war, die jüdisches Leben vernichten wollte. Nicht nur auslöschen, sondern zur Gänze aus der Welt tilgen. Es war ein Zivilisationsbruch – und wir haben ihn mitzutragen. Nicht nur ein Stück weit – sondern zur Gänze. Und das auch Generationen danach.

Doch aus diesem Gedenken erwächst auch Verantwortung. Eine Verantwortung, die nicht endet und nicht enden darf bei der Frage nach Schuld. Es erwächst daraus eine Verantwortung, die auch das Leid der Gegenwart sehen muss. Nicht, um von der eigenen Schuld abzulenken oder Schuld neu zu verteilen – sondern damit unsere Menschlichkeit nicht verloren geht.

Denn was geschieht da gerade, im Gazastreifen? Was sehen wir – wenn wir wirklich hinsehen?

Wir sehen Straßenzüge, die nicht mehr existieren. Kliniken, in denen es keine Mediziner mehr sind. Zerbombte Schulen. Flüchtlingslager, auf die Bomben fallen. Wir sehen über zwei Millionen Menschen auf engstem Raum, ohne Wasser, ohne Strom, ohne Ausweg. Eine Zivilbevölkerung, eingekesselt zwischen erbarmungslosem Terror und ebensolcher Militärmaschinerie. Und was wir dazu hören ist immer wieder dieses eine beschämende Wort: „Kollateralschaden“.

Ich frage mich, ob sich Menschlichkeit in Prozenten berechnen lässt. Ob es eine Schwelle gibt, an der das Leid zu viel wird, auch wenn die Ursachen kompliziert sind. Ob wir überhaupt noch wissen, wie sich Unschuld anhört, wenn sie um Hilfe ruft.

Mir ist bewusst, wie schwierig das alles ist. Die Hamas ist keine harmlose Kraft. Sie ist eine rein terroristische Organisation – brutal, skrupellos, ohne jedes Gewissen. Sie versteckt sich hinter Zivilisten, missbraucht Moscheen, schießt aus Krankenhäusern. Und ja – jedes Land muss seine Bürger schützen dürfen. Muss sich verteidigen können. Das steht außer Streit, außer Frage.

Aber was ist Verteidigung? Was ist Abschreckung? Und was ist gnadenlose Rache?

In den letzten Tagen und Wochen habe ich auch öfter über den kleinen Unterschied nachgedacht, der zwischen „Verhältnismäßigkeit“ und „Vergeltung“ besteht. Der eine Begriff ist juristisch, der andere emotional. Und vielleicht liegt genau in diesem Unterschied das eigentliche Problem: Dass dieser Krieg mit tief sitzenden Gefühlen geführt wird – und wir, die zusehen, keine Sprache mehr dafür haben. Keine Worte mehr dafür finden.

Vielleicht ist das auch der Grund, warum wir schweigen. Warum so viele Menschen, die sich sonst engagiert äußern, plötzlich stumm geworden sind. Aus Angst, das Falsche zu sagen. Aus Furcht, missverstanden zu werden. Weil, wer Israel kritisiert oder die Palästinenser in Schutz nimmt, sehr leicht Gefahr läuft, plötzlich als Antisemit zu gelten. Die Fronten scheinen klar – doch die Wirklichkeit ist es nicht.

Dabei ginge es gar nicht um Parteinahme. Nicht um ein „für“ oder „gegen“, sondern vielmehr um ein Hinsehen. Um ein sich nicht abwenden. Denn jede Rakete, die fällt, trifft nicht nur ein Ziel. Sie trifft auch unser Verständnis von dem, was noch menschlich ist – und was nicht mehr.

Ich habe freilich keine Lösung anzubieten. Keine besseren Strategien, keine politischen Rezepte. Aber ich habe Fragen. Und ich glaube, dass wir sie stellen müssen – weil sie drücken. Weil sie weh tun. Und weil sie dringend nach Antwort verlangen.

Was bedeutet Erinnerung, wenn sie taub wird für das Leid anderer?
Was bedeutet Solidarität, wenn sie blind macht?
Was bedeutet „Nie wieder“, wenn es nicht für alle gilt?

Vielleicht geht es im Kontext dieser Fragen gar nicht darum, eine Wahrheit zu finden. Vielleicht reicht es, die Leerstelle zu spüren, die entsteht, wenn unser Mitgefühl nur noch dort reagiert, wo es uns leichtfällt. Wenn wir anfangen, Leid zu gewichten. Wenn Kinderleichen in einem Land Empörung auslösen – aber in einem anderen nicht mehr als betretenes Schweigen.

Als ich gestern Abend diesen Text zu schreiben begann, fing es wieder an zu regnen. Nicht laut, nicht schwer. Nur dieses gleichmäßige Tropfen, das sich langsam über die Dächer legt, über die Fenster, über die Gedanken. Ich saß vor meinem PC und hörte dem Regen zu, der in jener Art fiel, die nichts erzwingt, aber alles durchdringt. Und während ich schrieb, kehrte der Satz noch einmal in mein Bewusstsein zurück. Leiser diesmal: „Wir haben das Recht, uns zu verteidigen.“ Beinahe war es so, als wolle er sich plötzlich selbst hinterfragen, um eine Antwort zu finden.

Er stand im Raum, wie etwas, das geprüft werden will. Nicht verworfen, nicht bejaht – sondern einfach nur betrachtet. Mit allem, was mitschwingt mit ihm. Mit all der Geschichte und Schuld, die sich mit ihm verbindet. Aber auch mit der Frage, was wir hören, wenn wir ihn aus einem anderen Mund, in einem anderen Kontext, in einer anderen Dunkelheit vernehmen.

Ja, Israel, Du hast das Recht Dich zu verteidigen!
Aber wie weit – und das frage ich Dich – wie weit darf Deine Verteidigung gehen?