Ich saß heute in einem Grazer Café. Einem jener Orte, an denen die Zeit drinnen langsamer zu fließen scheint als draußen. Mir gegenüber saß eine junge Frau, vertieft in Papier, mit farbigen Stiften in der Hand – Lehrerin, so viel war schnell klar. Deutsch war ihr Fach. Korrekturarbeit. Vor ihr lag offen eine Liste mit zwanzig Namen. Ich las sie nicht neugierig – eher beiläufig. Fünf davon klangen mir der Sprache nach vertraut. Fünf von zwanzig.
Es war kein Moment der Irritation oder Empörung. Sondern eher einer des Innehaltens.
Wie sieht ein Unterrichtstag aus, wenn fünf Kinder von Geburt an mit Deutsch aufgewachsen sind – aber fünfzehn nicht? Wenn fünfzehn Namen Lebensgeschichten erzählen, die nicht in Österreich beginnen, aber hier weitergeschrieben werden sollen? Wie lässt sich eine Sprache vermitteln, wenn sie selbst die größte Hürde ist? Wenn Grammatik und Handschrift noch nach Orientierung suchen – geformt von einer anderen Sprache, einem anderen Alphabet, einer anderen Laufrichtung der Schrift? „Karim, ich kann deine Schrift nicht lesen“, schreibt die Lehrerin in eine ihrer Korrekturen. Nicht abwertend. Eher rat- und hilflos – oder resigniert.
Es sind nicht nur diese Fragen, die mir durch den Kopf gehen – es gibt noch viele andere.
Wie gestalten wir Bildung, wenn die sprachlichen Unterschiede groß sind – und größer werden? Wie erleben Kinder, für die Deutsch selbstverständlich ist, den Unterricht, wenn das Lerntempo vom sprachlichen Fundament der Klasse abhängt? Wie erleben ihn Kinder, deren Muttersprache eine andere ist, wenn sie erst um vieles später verstehen, was die anderen längst wissen – und trotzdem dazugehören wollen? Wie trägt – und erträgt – eine Lehrkraft das alles im ständigen Hin- und Hergerissensein zwischen Lehrplan, hohem Anspruch und Realität?
Nein – das sind keine Anklagen. Nur neue Fragen, auf die ich, wie auf die anderen auch, keine Antworten habe, keine finde.
Zwanzig Namen – zwanzig junge Menschen, zwanzig Hoffnungen für morgen in einem System, das alle gleich behandeln will, aber ungleiche Voraussetzungen schafft. Ein System, das jungen Menschen Chancengleichheit verspricht und genau daran scheitert.
Vielleicht müssten wir öfter und genauer hineinsehen. In die Klassenzimmer. Die Lehrerzimmer. Die Korrekturstapel im Café. Nicht mit Abwehr. Nicht mit Eifer. Oder blindem Aktionismus. Sondern mit der Bereitschaft, zu erkennen, wie ungeheuer komplex der Schulalltag geworden ist.
Lösungen? Ich habe keine.
Was bleibt, ist ein Bild: eine Lehrerin mit roten, grünen und blauen Stiften. Und zwanzig Welten, die versuchen, gemeinsam zu lernen – nicht nach Plan, sondern irgendwie.
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